Nothilfe und Zwangsmassnahmen gegen abgewiesene Asylsuchende
Übersicht zur Situation im Kanton Zürich
Anfangs 2016 startete die kantonale Sicherheitsdirektion - Vorsteher ist SP-Regierungsrat Mario Fehr - eine rigorose «Eingrenzungs»-Politik: Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus, die in abgelegenen Notunterkünften leben müssen, dürfen die Gemeinde oder den Standort-Bezirk nicht mehr verlassen. Auch wenn es inzwischen weniger Eingrenzungen gibt, sind sie nach wir vor eine Zumutung: Unter Androhung von Gefängnis- oder Geldstrafe wird so ein zentrales Menschenrecht – die Bewegungsfreiheit – verweigert.
Wenn sich ein Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat verwandelt, wird auch in der Schweiz ziviler Ungehorsam und praktischer Widerstand zur Pflicht.
Inhalt:
Abgewiesen und eingesperrt
- Nothilfe und Zwangsmassnahmen gegen abgewiesene Asylsuchende
- Nothilfe: überleben statt leben
- Praxis im Kanton Zürich
- Lebensbedingungen und psychische Gesundheit im Nothilfesystem
- Frauen, Kinder und Familien in den Nothilfe-Lagern
Ein kurzer historischer Überblick
- Asylgesetzrevision und die Einführung der Nothilfe
- Dynamisierung
- Eingrenzungen
- Beschwerden
- Präsenzzwang
- Das beschleunigte Asylverfahren
- Bundesgerichtsentscheid zur gesundheitlichen Versorgung 2019
Abgewiesen und eingesperrt
Nothilfe und Zwangsmassnahmen gegen abgewiesene Asylsuchende
Man könnte meinen, in der Schweiz gelten die gleichen Gesetze für alle, doch für eine Gruppe von Menschen gelten andere Regeln: Sie unterstehen zusätzlich noch dem Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Das AIG regelt nicht nur Aufenthaltsstatus und Arbeitsrecht, sondern beraubt eine erhebliche Anzahl Menschen in der Bevölkerung eines wichtigen Teils der Grundrechte. Kaum ein anderes Land auf der Welt ziert sich so stark wie die Schweiz bis sie zugereiste Menschen einbürgert.Am härtesten trifft diese Grundhaltung jene, die laut dem Staatssekretariat für Migration ( SEM )
keine Aufenthaltsberechtigung (mehr) haben. Ohne jemals eine kriminelle Tat begangen zu haben, können diese Menschen über fünfeinhalb Jahre eingesperrt werden:
- max. 18 Monate Ausschaffungs-, Durchsetzungs- oder Vorbereitungs-Haft
- Max. 1 Jahr Gefängnis wegen der Straftat des 'illegalen Aufenthalts'
- Max. 3 Jahre Gefängnis wegen Verletzung der Eingrenzung
Sind sie nicht im Gefängnis, leben sie trotzdem nicht in Freiheit. Jederzeit und überall können sie verhaftet werden. Denn bereits ihre Anwesenheit in der Schweiz stellt schon eine Straftat dar. Sie können selbst in der Notunterkunft, also einer vom Staat zugewiesenen Unterkunft, verhaftet werden. Klingt absurd, ist aber Teil des Ausgrenzungsregimes, um diese Menschen mit allen Mitteln zur Ausreise zu bewegen. Jede behördliche Vorladung kann in einer Verhaftung enden. Nicht-Erscheinen nützt nichts, dann werden die Betroffenen erst recht zur Fahndung ausgeschrieben.
Auch die Nothilfe, welche alle in der Schweiz lebenden Menschen beanspruchen können, wird als zusätzliches Druckmittel missbraucht.
Nothilfe: überleben statt leben
Ohne gültige Aufenthaltsbewilligung ist es nicht möglich, in der Schweiz zu arbeiten und für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Das bedeutet, dass man auf Hilfe angewiesen ist. Seit Januar 2007 erhalten abgewiesene Asylsuchende im Kanton Zürich jedoch keine Sozialhilfe mehr (Personen mit Nichteintretens-entscheid seit dem 1. April 2004), sondern nur noch Nothilfe. Dies betrifft nicht nur Personen, die abgewiesen wurden oder auf deren Asylgesuch nicht eingegangen worden ist, sondern auch diejenigen, die ein zweites Asylgesuch gestellt haben und somit über einen geregelten Aufenthaltsstatus (N) verfügen.In Artikel 12 der Bundesverfassung steht:
« Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. »
Alle Menschen, die in der Schweiz leben, haben einen Anspruch auf diese Hilfe und Betreuung. Für Menschen, die ihre Aufenthaltsbewillligung verloren haben und nicht ausgeschafft werden können, besteht die Nothilfe jedoch aus dem absoluten Minimum:
Die Nothilfe ist kantonal geregelt. Sie umfasst in jedem Kanton eine Schlafmöglichkeit, die obligatorische Krankenversicherung, sowie den Alltagsbedarf wie Essen und Kleidung. Im Kanton Zürich erhält jede Person pro Woche 60 Franken. Damit müssen alle Lebensbedürfnisse abgedeckt werden. Dieser Betrag wird je nach Region auch in Naturalien oder in Migros- oder Coop-Gutscheinen ausbezahlt. Dieser Betrag reicht kaum zum Überleben, geschweige denn zum Leben. Weiter sind die Nothilfe-Bezüger*innen einer kollektiven Krankenversicherung für die medizinische Notversorgung angeschlossen. Medizinische Notversorgung bedeutet, dass Zähne nicht geflickt, sondern gezogen werden. Oder es werden bei Knieverletzungen sofort die Schleimbeutel entfernt, bevor aufwendigere Heilungsvarianten überhaupt angedacht werden. Den Nothilfebezüger*innen wird eine Unterkunft zugeteilt, wo und wie der Kanton die sie unterbringt, liegt im seinem Ermessen. Das kann eine Schlafkoje in einem Bunker sein, ein renovationsbedürftiges Haus oder ein Container.
Menschen in derart prekären Lebensbedingungen zu bringen scheint nicht genug, um den ihnen zu zeigen, dass sie hier nichts mehr zu suchen haben. Gefangen in der Nothilfe und mit keinerlei Perspektiven werden sie gezwungen ein Leben abseits der Gesellschaft zu führen, ohne Hoffnung auf Verbesserung. Wer trotz abgewiesenem Asylgesuch nicht zurück in die Heimat reisen will, hat gewichtige Gründe. Anders lässt sich die Beharrlichkeit nicht erklären, mit der Menschen, die Nothilfe erhalten, diese Situation oft über Jahre hinweg aushalten. Obwohl durch die Nothilfe sehr stark prekarisiert und der meisten Grundrechte beraubt, versuchen sie das Beste aus ihrer Lage zu machen.
Die unmenschlichen Bedingungen in der Nothilfe und die Aussichtslosigkeit führen zu physischen und psychischen Problemen: Die schlechten Lebensbedingungen erhöhen die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten.Viele Nothilfebezüger*innen können nur noch mit Schlaf- oder Beruhigungsmedikamenten schlafen. Nur ganz wenige erhalten die eigentlich dringend benötigte psychotherapeutische Behandlung. Unter diesen Umständen überrascht es auch nicht, dass es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Bewohnern kommt. Erstaunlich ist viel mehr, dass es nicht noch wesentlich mehr Gewalt gibt. Jede Person, die Nothilfe erhält, muss ein eigenes System entwickeln, um sich von dem psychischen Druck und der ungewissen Zukunft nicht auffressen zu lassen. Das reicht von Spaziergängen und dem Betreiben von Sport über den Besuch von Deutschkursen bis hin zur Teilnahme an diversen Vereinsaktivitäten der einheimischen Bevölkerung.
Im Gegensatz zu anderen Regionen in der Schweiz sind die Nothilfe-Lager in Zürich nicht eingezäunt und auch nicht durch Mauern abgeschlossen. Doch die Nothilfe-Bezüger*innen sind trotzdem nicht frei. Unsichtbare Mauern begleiten sie überall hin: Die Eingrenzungen, die Abgelegenheit der Unterkünfte sowie der Mangel an Geld erschweren oder verunmöglichen Kontakte und die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten. Zudem wenden sich die meisten Menschen von ihnen ab, sobald sie erfahren, in welcher Situation sie leben und welchen Aufenthaltsstatus sie haben. Diese psychische Zermürbung ist gewollt. Darauf zielen die Massnahmen der kantonalen Sicherheitsdirektion ab.
Wir bezeichnen die vom Bund Rückkehrzentren genannten Unterkünfte bewusst als Nothilfe-Lager. Denn in Lagern wird eine Gruppe von Menschen bewusst isoliert, räumlich konzentriert und anderen Gesetzten unterstellt.
Praxis im Kanton Zürich
Die Nothilfe-Lager befinden sich in Kemptthal, Glattbrugg, Urdorf, Adliswil und Hinteregg. Geführt werden sie von der privaten ORS AG, einem profitorientierten Unternehmen. Durch die gewinnorientierte Ausrichtung der Firma wird nicht nur bei Nothilfebezüger*innen gespart, sondern auch bei den Angestellten. Auftraggeber und verantwortlich für die rigiden Hausregeln ist aber das Kantonale Sozialamt, welches ebenfalls der Sicherheitsdirektion von Mario Fehr (SP) unterstellt ist.Alle Nothilfe-Lager sind sehr abgelegen. Einkaufsmöglichkeiten befinden sich oft nicht
in der Nähe. Die nächsten befinden sich z.B. in einem anderen Bezirk, den alle mit Eingrenzungen nicht betreten dürfen oder sie sind zu teuer (z.B. eine Autobahnraststätte). Die nächstgelegene Einkaufsmöglichkeit kann somit für Nothilfe-Bezüger*innen mit einer Eingrenzung nicht genutzt werden. Der Betrag von 8.50 Franken pro Tag muss reichen für Essen, Kleider und Hygieneartikel . Eine Tageskarte für den öffentlichen Verkehr würde bereits das Geld eines ganzen Tages verschlingen. Die häufigste 'Straftat', die Nothilfe-Bezüger*innen begehen, ist denn auch 'Schwarzfahren'.
Das Inventar ist meistens stark abgenutzt und trostlos, die Infrastruktur veraltet und – auch hygienisch - ungenügend. Mängel am Inventar und an der Infrastruktur werden zudem oft lange nicht behoben. Beispielsweise kommt es immer wieder vor, dass es während mehreren Tagen kein Warmwasser gibt.
Pro Nothilfe-Lager gibt es etwa 10 Tageskarten für den öffentlichen Verkehr, diese bekommt man zum Beispiel für Arztbesuche. Dies reicht für die bis zu 80 bis 100 Personen, die in jedem Lager leben, nirgends hin. Wenn dann alle Tageskarten vergeben sind, hat man Pech gehabt. Dies führt zu Spannungen unter den Bewohner*innen, da kaum Geld vorhanden ist, um selber ein Ticket zu kaufen.
Für das Reinigen der Unterkunft erhalten einzelne ein zusätzliches Entgelt, was je nach Unterkunft unterschiedlich gehandhabt wird. So bekommt man in Urdorf für das Putzen der Küche (ca. drei Stunden Aufwand) acht Franken, für die Räumlichkeiten der Mitarbeitenden hingegen nur drei Franken, da der Aufwand geringer sei. Im Schnitt sind das etwa 2–3 Franken pro Stunde. Jedoch können nur wenige Leute mit Putzen beauftragt werden, alle anderen gehen leer aus. Wer putzen darf, wird vom Personal willkürlich entschieden
Frauen und Familien werden hauptsächlich in den Nothilfe-Lagern in Adliswil und Hinteregg sowie in einem neben der Hauptunterkunft gelegenen Haus in Kemptthal untergebracht. Alleinstehende Männer werden in Urdorf und Glattbrugg sowie vereinzelt auch in Adliswil untergebracht.
Lebensbedingungen und psychische Gesundheit im Nothilfesystem
Da eine Mehrheit der Flüchtlinge bereits traumatisiert ist - und dies oft mehrfach - stellt das Nothilferegime Lebensbedingungen her, die die davon Betroffenen verelenden lässt und unter denen Retraumatisierungen und weitere Traumatisierungen beinahe unausweichlich sind.
Durch das System der Nothilfe werden die Menschen in einer konstanten Ohnmachtssituation festgehalten, ihre Lage erscheint ihnen als ausweglos, vorherrschend sind Gefühle der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung, sowie ein Verlust des Selbstwertgefühls, der Identität und der Sinnhaftigkeit. Es fehlen Perspektiven für die Zukunft. Die Menschen sind existenziell abhängig von den Anweisungen und Entscheidungen der Nothilfe-Lager-Betreiberin ORS und des Kantons, dies betrifft den Aufenthalt im Nothilfe-Lager, Bewilligung für Arztbesuche, Bezahlung von ÖV-Tickets sowie die Auszahlung des täglichen Geldbetrags. Sie sind willkürlich und schikanös anmutenden Vorschriften und Massnahmen ausgeliefert, die sich jederzeit ändern können, und deren Nichteinhaltung Sanktionen bis zum Entzug des existentiellen täglichen Geldbetrags zur Folge hat. Sie leben in konstanter Angst vor den unvorhersehbaren, meist frühmorgens durchgeführten und oft mit Ausschaffungen verbundenen, Kontrollen durch die Polizei oder die jederzeit unangemeldet möglichen Zimmerkontrollen der ORS. Sie sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt infolge der Eingrenzungen und der Abgelegenheit der Nothilfe-Lager und dadurch isoliert von sozialen Kontakten.
Ohnmacht, Angst und Anspannung, Abhängigkeit bezüglich Existenzgrundlagen, Ausgeliefertsein an jene, die über die bestimmen können, Willkür, Isolation: mit diesen Begriffen wird eine Situation beschrieben, die zum Teil mit derjenigen von Geiseln vergleichbar ist, und deren Folgen denjenigen einer Traumatisierung entsprechen.
Es sind die, durch die Behörden mit der Intention die Menschen zur Ausreise zu zwingen, beschlossenen Massnahmen des Nothilferegimes selbst, welche die retraumatisierende oder erneut traumatisierende Situation in den Nothilfe-Lagern herstellen. Entsprechend gibt es in den NUKs keine Lebensbedingungen, die die Gesundheit traumatisierter Menschen verbessern oder zumindest stabilisieren könnte, sie werden im Gegenteil möglichst aller noch vorhandenen Ressourcen beraubt. Das Regime der Nothilfe ist somit direkt verantwortlich für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Frauen, Kinder und Familien in den Nothilfe-Lagern
Vom Nothilferegime betroffen sind auch Frauen und Familien. Sie sind hauptsächlich im Nothilfe-Lager in Adliswil untergebracht. Viele von ihnen leben schon mehrere Jahre in der Schweiz. Sie sind, über Bekannte, die Kirche oder verschiedene Deutschkurse, in soziale Netze eingebunden. Ihre Kinder gehen hier zur Schule. Sie kommen aus Äthiopien, Eritrea, Somalia, Tschetschenien, dem Senegal, der Mongolei, Tibet und anderen Ländern. Viele von ihnen können aus unterschiedlichsten Gründen nicht in ihre «Heimatländer» zurück. Die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, ist nach fünf Jahren ein Härtefallgesuch zu stellen. Alle diese Menschen befinden sich in einem untragbaren Zustand, irgendwo zwischen Angst, Wut, Hilflosigkeit und einem nicht enden dürfenden Willen zum Überleben. Wer die Hoffnung verliert, landet in einem Niemandsland, wo gesellschaftliche Sichtbarkeit, Solidarität und Kontrolle gar nicht mehr existieren.Seit einiger Zeit ist es aufgrund eines Bundesverwaltungsgerichtsentscheids wieder rechtens, Familien über das Dublin-Abkommen nach Italien auszuschaffen. Betroffen von diesem Entscheid sind alle: Schwangere Frauen, Familien mit kleinen Kindern, alleinerziehende Mütter, Schulkinder etc. Um sie den italienischen Behörden zu überstellen, sind keine konkreten Abklärungen nötig. Die medizinischen Gutachten, die für die Ausschaffung nötig sind, werden von einer privaten Firma, der Oseara AG, erstellt. Diese setzt sich dabei schon auch einmal über Gutachten von Fachärzt_innen hinweg. Indem gemäss Reglement Ausschaffungen bis zur 36. Schwangerschaftswoche erlaubt sind, werden Mutterschutz und Kindeswohl auf gesetzlicher Basis mit Füssen getreten. Schlimmer noch: Die private Firma kann bei einem Gutachten, weclhes eine Ausschaffung für zulässig erklärt, auch gleich die ärztliche Begleitung beim Ausschaffungsflug übernehmen. Solche Gutachten liegen somit in ihrem Interesse, streicht sie dann doch doppelt Geld ein. Sie profitiert finanziell von der Missachtung der Grundrechte von besonders verletzlichen Personen.
Seit einiger Zeit häufen sich Vorfälle in der Ausschaffungspraxis der Kantonspolizei, bei denen gerade gegenüber Frauen und Familien mit äusserster Brutalität vorgegangen wurde. Augenzeug*innen berichten von schreienden Frauen in Adliswil, die über den Hof Richtung Polizeiwagen regelrecht geschleift wurden. Sie berichten von alleinerziehenden Müttern, die vor ihren Kindern in Handschellen abgeführt wurden. In den meisten Fällen führt die Polizei die Ausschaffungen in den frühen Morgenstunden und ohne Ankündigung durch. So werden Kinder unvorbereitet aus dem Schlaf gerissen und in keiner Weise psychisch auf die Situation vorbereitet. Dieses Vorgehen ist absolut unverhältnismässig und lässt sich durch keinerlei Argumentation entschuldigen. Es missachtet die Würde und die Rechte der Frauen, Kinder und Familien vollkommen und schafft ein Klima ständiger Angst in den Notunterkünften. Denn die regelmässigen Polizeieinsätze in voller Montur sind nicht nur für die jeweils direkt Betroffenen traumatisierend, sondern prägen den Alltag aller NHL-Bewohner*innen: Sie leben in ständiger Furcht, dass es sie beim nächsten Mal treffen könnte.
Ein kurzer historischer Überblick
Asylgesetzrevision und die Einführung der Nothilfe
Bis 2007 waren abgewiesene Asylsuchende in gemischten Zentren untergebracht, es gab also keine Nothilfe-Lager im Kanton Zürich. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde auch Geflüchteten die Asyl-Fürsorge ausbezahlt, egal, ob das Gesuch noch behandelt wurde oder schon abgelehnt worden war. Das revidierte Asylgesetz trat erst ab dem 1.1.2008 in Kraft. Einzelne Gesetze wurden aber bereits ab dem 1. Januar 2007 umgesetzt. Dies betraf vor allem die Neu-Regelung der Nothilfe. Im Kanton Zürich wurden Nothilfe- Bezüger*innen neu mehrheitlich in Lager zusammengezogen und erhielten finanzielle Nothilfe in Form von Migros-Gutscheinen und nicht mehr ausbezahlt. Dagegen entwickelte sich eine breit abgestützte Solidaritätsaktion: Einmal in der Woche konnten die Migros-Gutscheine gegen Bargeld eingetauscht werden. Die Gutscheine wurden von Einheimischen zum Nennwert gekauft und für eigene Einkäufe benutzt. Der Kanton stoppte daraufhin die Gutscheinabgabe im Sommer 2011. Seither erhalten Nothilfebezüger*innen einen Betrag von 60 Franken pro Woche ausbezahlt.Bis heute hängt es aber von der jeweiligen Gemeinde ab, ob Nothilfe-Bezüger-*innen einem Lager zugewiesen werden oder ihren Wohnsitz in 'ihrer' Gemeinde beibehalten können. D.h. von den Nothilfe-Bezüger*innen lebt knapp die Hälfte nicht in einem Nothilfe-Lager. D.h. es gibt im Kanton Zürich nach wie vor Gemeinden, die nicht bereit sind, abgewiesene Asyl-Bewerber*innen dem demütigenden Lagerleben auszuliefern.
Dynamisierung
2007-2013 folgte eine Periode der Schikane durch „Dynamisierung“: Abgewiesene Asylbewerber*innen müssen alle sieben Tage die Unterkunft wechseln. Dafür mussten sie wöchentlich zum Migrationsamt am Berninaplatz in der Stadt Zürich und dort erneut einen Antrag auf die, notabene in der Bundesverfassung garantierte, Nothilfe stellen. Von dort ging es dann zum Sozialamt, welches die Unterkunft für die nächste Woche bekannt gab, es sei denn, die Polizei wartete beim Migrationsamt mit Handschellen. Das Ticket zum Migrationsamt musste selber bezahlt werden, mit den damals üblichen 60 Franken in Migros-Gutscheinen ein eher unmögliches Unterfangen.Daher fuhren viele ohne Ticket , weshalb sie dann gebüsst oder verhaftet wurden. Diese Dynamisierung stresste die Menschen enorm, sie erschwerte bestehende soziale Kontakte und führte zu ständiger Angst vor Verhaftungen. Eine ungewollte Folge war aber dass dadurch eine Vernetzung unter den Nothilfe-Bezüger*innen quer durch den Kanton Zürich stattfand. Ab 2012 wurde die '7-Tage-Regel' immer weniger angewandt und bis 2015 ganz aufgegeben.
Eingrenzungen
2015: Im Laufe des Sommers werden zunehmend Eingrenzungen wegen kleineren Straftaten wie Diebstahl ausgesprochen.Frühling 2016: Neu werden Eingrenzungen sogar gegen ganze Gruppen von Bewohner*innen der Nothilfe-Lager ausgesprochen. Im Rahmen der Sparmassnahmen 2016 (Lü 16) des Kantons soll auch im Asylwesen gespart werden. Unter anderem soll die Zahl der Nothilfe-Bezüger*innen massiv gesenkt werden.
Die von einer Eingrenzung Betroffenen dürfen jetzt die Gemeinde oder den Bezirk des Nothilfe-Lagers nicht mehr verlassen. Bei Missachtung drohen bis zu drei Jahre Gefängnis. Diese Massnahme führt zu einer noch stärkeren Isolation der Nothilfebezüger*innen, denn sie können weder Freund*innen noch Familie besuchen, wenn diese nicht per Zufall in der Gemeinde wohnen, in der die Unterkunft steht. Sie können auch keine Angebote in Anspruch nehmen, die sich ausserhalb der Gemeinde befinden – nicht einmal rechtliche Unterstützung, die gerade im Fall der Zwangsmassnahmen äusserst wichtig wäre, wenn die Grundrechte der Betroffenen gewahrt bleiben sollen. So bleiben sie vereinsamt und entrechtet ausserhalb der Gesellschaft. Nicht einmal auf die familiäre Situation wird bei dieser Massnahme Rücksicht genommen. So kann es vorkommen, dass ein Vater seine Tochter nicht mehr besuchen kann, weil sie nicht in der gleichen Gemeinde wohnt. In einem Fall gingen die Kinder in der Nachbargemeinde zur Schule. Wegen der Eingrenzung war es der Mutter nicht erlaubt, die Kinder zur Schule zu begleiten, da diese ausserhalb des zugewiesenen Gebietes lag.
Beschwerden
Gegen die Eingrenzungen als repressive Massnahme wurde Beschwerde eingereicht, welche bis vor das Bundesgericht weitergezogen und von diesem abgewiesen wurde. Damit werden Grundrechte eindeutig missachtet. Die Gerichte machen Unrecht zu Recht und legitimieren damit, oftmals ohne eigene Überprüfungen anzustellen, die Sichtweise der Behörden.Im Entscheid des Bundesgericht vom November 2017 ist unter anderem zu lesen:
"Im Gegenteil ist die Eingrenzung auch und gerade dann ein legitimes Mittel zur Durchsetzung der rechtskräftigen Ausreiseverpflichtung, wenn eine zwangsweise Ausschaffung nicht möglich ist."
"Da der Aufenthalt des Beschwerdegegners seit Ablauf der Ausreisefrist ohnehin in der ganzen Schweiz rechtswidrig ist, verbietet ihm die Eingrenzung auf den Bezirk V.________ nichts was ihm nicht ohnehin schon verboten ist."
"Wenn der Beschwerdegegner seiner Rechtspflicht nachkommt und effektiv ausreist, wird die Eingrenzung und damit auch die Strafandrohung ohnehin wegfallen. Der Beschwerdegegner hat es in der Hand, durch rechtmässiges Verhalten die Massnahme hinfällig werden zu lassen."
Das Bundesgericht rechtfertigt die Anwendung der Eingrenzung somit ausdrücklich damit, dass den Nothilfe-Bezüger*innen das Leben so ungemütlich als möglich gemacht werden soll.
Präsenzzwang
Februar 2017: Das kantonale Sozialamt gibt von einem Tag auf den anderen die Einführungdes „Präsenzzwanges“ bekannt:Personen in der Nothilfe müssen neu zweimal pro Tag im Nothilfe-Lager ihre Anwesenheit durch unterschreiben bestätigen, nicht wie bis anhin dreimal pro Woche. Die 60 Franken werden nun auf die Wochentage aufgeteilt, Dienstag bis Donnerstag einmal am Tag 10 Franken, am Freitag 20 Franken für das Wochenende. Wer es verpasst, sich in die Anwesenheitslisten einzuschreiben, bekommt für diesen Tag kein Geld. Das zwingt die Nothilfebezüger*innen noch mehr in die Isolation und Verelendung. Deutschkurse in den Gemeinden, Kirchen- oder Moscheebesuche und weitere Aktivitäten werden durch die Anwesenheitspflicht verunmöglicht. Durchgesetzt wird die Massnahme von der privaten ORS AG. Damit übernimmt diese Aufgaben des Staates, ohne dass transparent gemacht worden wäre, auf welcher gesetzlichen Grundlage der Kanton die ORS-AG dazu legitimiert hat. Dies ist umso schwerwiegender als es sich dabei auch um Repression gegenüber Menschen im Nothilferegime handelt, für deren (Über)Leben der Staat verantwortlich ist.Gegen den Anwesenheitszwang haben 50 Bewohner*innen der Nothilfe-Lager Rekurs eingelegt. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich lehnte den Rekurse ab, da das Merkblatt, mit welchem die Massnahme angekündigt wurde, keine rekursfähige Verfügung sei. Auf die in der Beschwerde gestellten drängenden Fragen ging das Verwaltungsgericht nicht ein. Dieses hielt in seinem Urteil lediglich fest, dass die Eingriffe in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers nicht genügend ausgewiesen worden seien. Als letzte Instanz lehnte das Bundesgericht den Rekurs Ende 2018 aus formaljuristischen Gründen ab, ohne sich auf die Behandlung der rechtlichen Fragen einzulassen. Wie weit die zulässige Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Nothilfebezüger*innen gehen darf und ob man Menschen im Rahmen des Sonderstatusverhältnis faktisch einsperren darf, bleibt damit weiterhin unbeantwortet.
2018: Die ersten Eingrenzungen laufen nach zwei Jahren aus. Die meisten werden nicht mehr verlängert. Bei einem Teil der Nothilfe-Bezüger*innen wird aber nach einer mehrwöchigen Pause eine erneute Eingrenzung für ein Jahr angeordnet. Nach welchen Kriterien das Migrationsamt eine Verlängerung anordnet, ist nicht nachvollziehbar. Es trifft Personen, deren einzige Straftat ihre Anwesenheit in der Schweiz ist und die in vielen Fällen gesundheitliche, oft psychische, Probleme haben. Wer Straftaten ausserhalb des Ausländerrechts begangen hat, lebt nicht in einem Nothilfe-Lager, sondern sitzt im Gefängnis oder ist ausgeschafft worden. Dies war aber bereits zu Beginn der 90er-Jahre bekannt, als die Notwendigkeit zur Einführung der Zwangsmassnahmen damit begründet wurde, dass anders den ausländischen Straftätern nicht beizukommen sei.
Das beschleunigte Asylverfahren
1. März 2019: Mit der Einführung des beschleunigten Asylverfahrens werden die Bedingungen in den Nothilfe-Lagern langsam, aber stetig weiter verschärft. Die Zeitfenster für die Unterschrift sind nochmals verkleinert worden (morgens 8.30 - 9.30 und abends von 18 - 21 Uhr). Dies führt dazu, dass der Besuch von Deutsch- oder von Theaterkursen, wie auch die Teilnahme an Trainings in Sportvereinen noch schwieriger wird. Während die administrative Erfassung verfeinert wird. Für die Anwesenheitskontrolle müssen sich die Geflüchteten nicht mehr in eine Liste eintragen. Neu hat jede Person eine eigene Akte. Nichts ändert sich an der Willkür: Wegen einer nicht geleisteten Unterschrift wurde in Kemptthal die Auszahlung der täglichen Nothilfegelder gerade für die ganze Woche verweigert.Bundesgerichtsentscheid zur gesundheitlichen Versorgung 2019
15.3.2019: Das Bundesgericht hat in einer öffentlichen Sitzung mit 3 zu 2 Stimmen entschieden, dass der Nothilfebetrag für einen diabeteskranken Mann nicht erhöht wird. Das gefährdet das Leben des eritreischen Mannes. Als Folge der Diabetes leidet er an schweren Erkrankungen am Herz, den Nieren und den Augen. Er läuft Gefahr, zu erblinden. Auf Rat seiner Ärztin und einer Spezialistin müsste er seine Ernährung dringend umstellen. Mit den 8.50 Franken Nothilfe-Geld, die er täglich für seinen gesamten Lebensunterhalt erhält, ist dies nicht möglich.Er beantragte deshalb, den täglichen Betrag auf 16 Franken zu erhöhen, was monatlichen 480 Franken entspräche. Das Zürcher Sozialamt und dann auch das Zürcher Verwaltungsgericht lehnten dies aber ab. Begründet wurde das Urteil mit der unwahren Behauptung des kantonalen Sozialamtes, wonach Hygieneartikel und Kleider in allen Zürcher Notunterkünften als Sachleistungen abgegeben würden und das Nothilfegeld somit lediglich für Lebensmittel reichen müsse. Wie schon das Verwaltungsgericht hielt es dann auch die Mehrheit der Bundesrichter*innen nicht für nötig, diesen Sachverhalt zu überprüfen.
Das Verbreiten falscher Bilder durch die Zürcher Sicherheitsdirektion, welcher das Sozialamt untersteht, weist eine gewisse Konstanz auf. So stellen es die Behörden in den Medien immer wieder so dar, als ob nur straffällig gewordene Nothilfebezüger*innen auf den Bezirk oder die Gemeinde des Nothilfelagers eingegrenzt würden. Dies erweist sich zumindest im Falle des Beschwerdeführers als falsch. Er ist in der Schweiz nie straffällig geworden und auch seine krankheitsbedingte Misere hielt die Zürcher Behörden nicht davon ab, ihn wiederholt einzugrenzen.
Dynamisierung 2006
http://www.augenauf.ch/bulletin.html?task=document.viewdoc&id=80
http://www.nzz.ch/articleCXPEJ-1.153772
Eingrenzungen 2016
http://www.papierlosezeitung.ch/artikel/leben-an-der-leine
http://papierlosezeitung.ch/artikel/die-gemeinde-als-gefaengnis
http://papierlosezeitung.ch/artikel/mobile-rechtsberatung-gegen-die-eingrenzungsmaschinerie
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts:
http://www.droitpourlepraticien.ch/?page_id=22539&arret=2C_946/2017&year=2018&retour=1143
Anwesenheitskontrolle
http://solinetz-zh.ch/blinde-massnahmen/
https://www.woz.ch/1706/asyl-und-sozialdemokratie/mario-fehr-plagt-menschen
http://www.schweizamsonntag.ch/ressort/zuerich/zuerich_hart_gegen_sans-papiers/
Verwaltungsgerichtsurteil Anwesenheitszwang:
https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/nothilfe-etappensieg-fuer-fehr/story/31719949
Entscheid Nothilfeleistungen für abgewiesene Asylbewerber
Nothilfe
http://www.humanrights.ch/upload/pdf/110315_amnesty_magazin_nothilfe_1_d.pdf
http://www.beobachter.ch/justiz-behoerde/auslaender/artikel/asylverfahren_endstation-nothilfe/
http://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/asyl/nothilfe/
Die Bestrafung des widerrechtlichen Aufenthaltes
http://www.beobachtungsstelle-rds.ch/downloads/Illegaler%20Aufenthalt.pdf
Übersicht über die dokumentierten Fälle der Beobachtungsstellen für Asyl- und Ausländerrecht
http://www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user_upload/pdf_divers/Bericht_SBAA_Sept.09.pdf
ORS - Organisation für Regie und Spezialaufträge
http://www.srf.ch/sendungen/rundschau/asylprofiteure-jugendpolitik-m-mousson-pestizid-cocktail
http://www.sosf.ch/cms/upload/pdf/SOSF-BULLETIN_4_2015_DE_A4WEB.pdf
http://derstandard.at/2000021144255/Betreuungsfirma-in-Traiskirchen-Wer-profitiert-hier-genau
http://www.nzz.ch/schweiz/fluechtlingsstroeme-als-geschaeftsgrundlage-1.18489986